Arbeit als Ressource – für Kranke
von Martin Bunjes
In allen Unternehmen steigt die Zahl von Mitarbeitenden mit ernsten gesundheitlichen Problemen, körperlichen und psychischen. Für manche Betroffene heisst das: Pausieren, Aussteigen, Job wechseln. Für andere sind Arbeit sowie Kolleginnen und Kollegen hilfreich im Umgang mit der Krankheitsbedrohung; der Stellenwert von Sorgen und Leiden relativiert sich, die Heilungschancen steigen. Im Forschungsprojekt „neuesalter“ stellte die Modistin M.H. trocken fest: „Wenn ich meine Arbeit nicht hätte, wäre ich viel kränker.“ Die gut 80-jährige leidet an einer chronischen Krankheit, die ihre Bewegungsfähigkeit laufend abbaut.
Welche Rahmenbedingungen müssen Unternehmen entwickeln, um jene kranken Mitarbeitenden bei der Stange zu halten, die ihre Arbeit als Ressource für eine Heilung oder eine Stabilisierung erleben und wichtige Beiträge leisten?
Im Dialog haben Irene Etzer-Hofer, Leiterin der Fachstelle Betriebliches Gesundheitsmanagement an der ZHAW sowie die spurenwechseln-Netzwerkerin Elisabeth Michel-Alder das Thema aus verschiedenen Blickwinkeln beleuchtet. Leitfragen für die Diskussion waren:
- Arbeit kann krank machen – aber auch beim Gesunden helfen. Betriebliches Gesundheitsmanagement (BGM) fokussiert auf Prävention und Gesundheitskompetenz. Case-Management auf Wiedereingliederung von Personen nach längeren Absenzen. Wie aber werden Mitarbeitende mit Diagnosen, aber ohne auffällige Absenzen unterstützt? Wie wird im BGM Arbeit als Ressource behandelt? Genereller: Wie kam der „Kanon“ der Gesundheitsförderung zustande und wie lässt er sich erweitern?
- Von aussen gewinnt man den Eindruck, psychische Gesundheit werde weniger beachtet /bearbeitet als körperliche; stimmt das?
- Werden die Erwerbstätigen immer kränker? Auch jüngere Gruppen? Welche Gender- Unterschiede gibt es? Gibt es Generationen-Unterschiede? Wie geht BGM mit der Verflechtung von persönlich/ privaten und betrieblichen Belastungen um?
- Welche Rolle spielen veränderte gesellschaftliche Körper- und Fitnessnormen sowie Corona bei der neuen Aufmerksamkeit auf Erkrankungen… und damit auf BGM?
- Aussage von M. H. in „neuesalter“: Ohne meine Arbeit wäre ich kränker; kann Irene Etzer damit etwas anfangen?
- Konkrete Programme in grossen englischen Unternehmen versuchen, Erkrankten innerhalb der Belegschaft den Zugriff auf die Ressource Arbeit zu sichern: Es gibt z. B. Runde Tische für Krebsbetroffene oder Depressionspatient:innen usw. die zuhanden der Geschäftsleitungen Vorschläge für Massnahmen ausarbeiten und als Selbsthilfegruppe wirken. Wie sinnvoll und realistisch ist das für die Schweiz?
- Was ist die Haltung zu „social prescriptions“, also Rezepten zur Veränderung des Sozialverhaltens?
In der anschliessenden Diskussion unter den Anwesenden zeigte sich:
- Formate und Gefässe, in denen Betroffene gemeinsam ihre Themen im Unternehmen diskutieren können und günstigere Umstände oder Respekt erwirken, sind eine grosse Chance. Artikulieren, vergemeinschaften, wahrgenommen werden bedeutet für Betroffene ein Stück weit spezifische Akzeptanz und Integration. Eine Reduktion von Tun-als-ob.
- In grossen Unternehmen bieten sich bessere Chancen, allerdings verhindert das abteilungs- und departementsspezische «Gärtchendenken» oftmals wirksame Praxisansätze.
- Hilfreich wäre, wenn auch Verbände diese Themen auf der Agenda hätten und ihren Mitgliedern Best-Practice Beispiele aufzeigen könnten. Vorbildlich sind da Behindertenorganisationen.
- Nötig ist in jedem Fall, wenn von Krankheit betroffene Manager in ihren Unternehmen runde Tische initiieren und auch teilnehmen.
- Wichtig ist der Hinweis, dass solche inklusiven Praktiken eine entsprechende Kultur voraussetzen, beziehungsweise wirksam fördern. Individualisierte, personenbezogene Führung gewinnt weiter, wenn Mitarbeitende nicht nur als Wertschöpfungsfaktor, sondern als Personen mit unterschiedlichen Merkmalen Wertschätzung erfahren.
Winterthur, 03.07.24